Publikation zur Methode
INTERMEDIALE METHODE
Wenn Bilder beginnen zu tanzen
„Ich träume von einer Methode, die alle künstlerischen Medien mit einbezieht!“ Diesen Wunsch sprach ich 1972 aus. Als junge Lehrerin begegnete ich Reto Walt (Begründer des WEG- Werkstatt für Entfaltung und Gestaltung), der mich einführte in die Magie der Anleitung von kreativen Prozessen.
Als Psychomotorik-Therapeutin begegnete ich Trudi Schoop, der Mutter der Tanztherapie, die eine Inspiration für mein Leben wurde.
Im Jahr 1995 lernte ich Paolo Knill kennen und war begeistert. In seiner Methode sah ich meinen Traum verwirklicht.
Heute arbeite ich als intermediale Kunsttherapeutin mit Gruppen, Paaren und Individuen.
Die Ausildungen am Institut ISIS in Zürich und die European Graduate School in Leuk stellen in ihren Ausbildungslehrgängen in Kunsttherapie die intermediale Methode in den MIttelpunkt. Der Gründer dieser beiden Institutionen, Dr. Paolo Knill, erläutert in seinen Büchern ausführlich die Theorien sowie die philosophischen Wurzeln dieses Therapieansatzes.
Alle Erfahrungen während der Ausbildung entwickeln zudem in den Studierenden individuelles künstlerisches und kreatives Potential, welches massgebend wird in der Art, der Kunst, wie später im Zusammenspiel mit Patienten/ Klienten begleitet, bzw. interveniert wird.
In diesem Artikel möchte ich einen Einblick in meine Arbeit geben und sie in Bezug setzen zu Theorie und Methoden der intermodalen Kunst- und Ausdruckstherapie gemäss Knill. Definitionen von Fachausdrücken aus dem Glossar EGIS-ISIS 08 sind in Kasten hervorgehoben.
In jedem der fünf Beispiele wird ein einzelne methodischer Aspekt oder theoretischer Inhalt hervorgehoben, der als Orientierung zu erweitertem Verstehen des Geschehens im Dreieck Klientln- Werk- Begleiterln dienen soll.
IMAGINATION UND INTERMODALE WAHRNEHMUNG
Imagination
Der Raum der Imagination ist der Raum der Freiheit – ein Raum, in dem auf ganz natürliche Weise Grenzen überschritten, Raum und Zeit relativiert, Möglichkeiten, die wir nicht mehr oder noch nicht haben, erlebbar werden . . . In unseren Imaginationen zeigt sich die Seele mit ihren Wünschen, ihren Ängsten, ihren Sehnsüchten und ihren schöpferischen Möglichkeiten . . .
(Glossar EGIS-ISIS 08)
Imagination ist intermodal.
Das heisst, Imagination ist nicht auf einen Wahrnehmungsmodus beschränkt. Wir imaginieren mit allen Sinnen: dem Sehen, Riechen, Tasten, Hören, Schmecken und der kinestetischen Wahrnehmung. Die Vorstellung von „baden“ bringt vielleicht ein Bild vom See und zugleich das innere Gefühl der Schwimmbewegung, die Stimmen der Kinder, der Geschmack vom Wasser im Mund, etc.
Mit allen Sinnen erleben schafft ein starkes Bündnis mit dem Leben. Im intermedialen Ansatz ist die Möglichkeit gegeben, mittels der verschiedenen Kunstmedien alle Sinnesmodalitäten anzusprechen.
In der Einrichtung meines Ateliers zeigt sich, dass hier für vieles Platz ist: Musikinstrumente, eine Malwand, ein Koffer mit Theaterrequisiten und verschiedene Papierformate gibt es da.
Wichtig ist die „Bühne“, ein abgegrenzter Raum, der zum spielerischen Gestalten, dem künstlerischen Ausdruck von inneren Welten einlädt. Die Menschen, die in meine Praxis kommen, haben ein Anliegen.
In der ersten Begegnung wird abgeklärt, welche künstlerischen Medien schon bekannt sind, welche mit Neugierde und welche eher mit Abneigung bis Angst belegt sind. Im Verlaufe der Therapie können sich die Vorlieben verschieben.
Das Ineinanderspielen der Medien und die intermedialen Transfers eröffnen den Menschen einen neuen Zugang zu bis anhin unbekannten Ausdrucksarten. Immer wieder bin ich erstaunt, wie viel Einsicht und Erkenntnis gewonnen wird. Wenn z.B. ein Bild in Bewegung umgesetzt wird, wenn aus einer selbstgeformten Tonfigur eine Geschichte entsteht oder wenn die erzählte Alltagsgeschichte in einem künstlerischen Prozess erstaunlich neue Sichtweisen auf das eben noch scheinbar unbewältigbare Thema bekommt.
Der Wechsel von einem Medium in das andere entsteht im Verlauf des Prozesses ganz selbstverständlich und eröffnet vertiefte und erweiterte Aspekte und Einsichten.
So kann ein einzelnes Werk bereichert werden durch Folgewerke aus dem intermedialen Transfer (siehe Kasten).
Ein Werk kann vieles sein: eine Installation, eine Bewegung, ein Tanz, ein persönliches Ritual, ein Bild, eine Szene, eine Musiksequenz, Töne, eine Lehmarbeit . . . die Liste ist lang.
Erstes Beispiel
MODELL EINER SITZUNGSSTRUKTUR
Medium: bildnerisches Gestalten, szenisches Spiel und Körperausdruck
In diesem Fall begann die Sitzung mit der Gestaltung einer dreidimensionalen Figur (bildnerisches Gestalten) und machte einen Wechsel in eine szenische Darstellung (Theater oder szenisches Spiel):
In dieser Sitzung werden die 4 Phasen einer Sitzung sichtbar:
• Sensibilisieren
• Explorieren
• Repetieren
• Autorisieren
In der theoretischen Vermittlung wird dies das Prinzip SERA genannt. (Knill 06)
1. S-Sensibilisieren, Rahmen
Der Klient berichtet von seiner Tendenz, sich innerlich abzuwerten, wenn er die an sich gestellten Ziele nicht erreiche. Das Gefühl, ein Versager zu sein, bremse ihn zunehmend in seiner Tatkraft.
Der Vorschlag, eine Figur, ein Gegenüber zu kreieren gefällt ihm. In cirka 10 Minuten entsteht auf der markierten Bühne, mit schwarzen Tüchern über die Stehleuchte geworfen, versehen mit Maske und Hut, eine Figur. Diese Figur stehe für die innere Stimme, welche Sätze spreche wie: „Du bist nichts wert!“ , erklärte er.
Obwohl die Figur einen Kopf kleiner als der Klient.ist, wirkt sie, seinen Äusserungen zufolge, sichtlich widerlich und beängstigend auf ihn.
Der Klient wird nervös und fahrig und möchte die Übung am liebsten „hier abschliessen“, wie er sich äussert.
2. E-Explorieren innerhalb des Mediums
„Die Werke, ja ihre überraschenden Erscheinungen, die durch die Imagination auftauchen, benötigen unser diszipliniertes Engagement... sie wollen mit uns in den Dialog treten, mit uns kämpfen und schöpferisch transformiert werden.“ (Knill,2005)
In diesem Schritt geht es darum, zu erkunden, welche neuen Möglichkeiten in der Begegnung mit der Figur zu finden sind.
Um sich auf eine Begegnung mit dieser, aus seiner Imagination aufgetauchten, Figur einlassen zu können, braucht es jetzt eine „eingrenzende Intervention“. Der Klient dreht der Figur den Rücken zu. Er fühlt sich unbehaglich und versucht, mit Fragen und leicht dahingeworfenen Scherzen, die Situation zu entschärfen.
Ich setze den Rahmen:
- „Suchen Sie den Ort und den Abstand auf der Bühne, wo sie die Möglichkeit haben, der Figur den Rücken zuzuwenden.
Nehmen sie sich Zeit, in ihrem Körper nachzuspüren, was geschieht. – Wenn es Zeit ist, drehen sie sich um, schauen die Figur an und achten darauf, was jetzt in ihrem Körper und Denken passiert.“
Safe place
Es versteht sich von selbst, dass nur in einer Atmosphäre von grosser Achtsamkeit, Sorgfalt, Verständnis und Respekt der Raum, sich so zu öffnen, gegeben ist. Einen „sicheren Raum“ zu kreieren ist die Grundlage für diese Arbeit.
Rumi, ein Sufi, sagt es so: „Dort, ausserhalb von Konzepten von falsch oder richtig getan, dort ist ein Feld. Wir treffen uns dort“.
Der Klient kann sich nur widerstrebend auf sich selber konzentrieren. Seine Gefühle
dieser Figur gegenüber sind sehr stark. Eine ruhige, tragende Atmosphäre zu halten, ist deshalb sehr wichtig. Ich frage ihn, ob er bereit sei und gebe ihm dann einen Glockenton als Zeichen, dass jetzt ein Zeitfenster aufgeht, das Raum gibt für das, was kommen wird. Es unterstützt ihn dabei, sich mit ganzer Aufmerksamkeit jetzt, in diesem Moment, dieser Begegnung zu widmen.
Die erste Begegnung mit der Figur wirkt fahrig, flüchtend. Er entschuldigt sich dabei, dass er solche Sachen nicht könne. Natürlich ist uns beiden klar, dass nach diesem ersten Durchgang weitere folgen werden. Die Türe ist nun geöffnet und neue, „andere“ Erfahrungen wollen gemacht werden. Seine Neugierde ist, trotz der unangenehmen Aspekte, geweckt, die Not- wendigkeit, die Not zu wenden ist gegeben. Er will und kann nicht mehr zurück.
3. R- Repetieren
- „Nach dem Umdrehen sah es fast aus, als würden sie umfallen“, teile ich ihm    meine Beobachtung mit.
- „Ja, es fühlte sich an, als wäre da ein Loch.“
- „Soll ich mit der Hand Unterstützung geben beim nächsten Mal?“
- „Ja, gerne.“
Wir spielen die Szene nochmals.
Als er sich dieses Mal zur Figur umdreht, stehe ich hinter ihm und gebe ihm mit den Händen Unterstützung am Rücken. Jetzt beginnen die Arme sich zu bewegen. Sie legen sich schützend über seine Brust. Dann strecken sie sich zitternd nach vorne, und die Hände markieren Abwehr. Diese Geste wiederholt er 2-3 mal.
Es kostet ihn Anstrengung. Der Bewegungsimpuls formt sich von tief innen.
Dies ist keine Alltagsbewegung. Hier äussert sich das Innerste– das Vergessene.
Dann gehen wir aus der Szene hinaus auf die andere Seite der Bodenmarkierung,
von wo wir das eben Geschehene beschreiben.
Er staunt. Es sei ihm ganz heiss geworden, erzählt er, und die Unterstützung an Rücken, Beinen und Füssen sei wichtig gewesen.
- „Eine Rückenstütze ist wichtig“, stimme ich ihm zu.
4. A- Autorisieren
Plötzlich, ohne Aufforderung, geht er spontan nochmals zur Figur im Bühnenraum hin und stellt sich mit festem Stand und eingestützten Händen vor die Figur.
Jetzt richtet sich der Körper auf, klar und von innen her gefestigt. – Als hätte er jemanden, der hinter ihm steht!
Zweifach hat der Klient die Situation bewältigt und somit sein Verständnis über sich selbst erweitert:
1. indem er sein Gefühl des Nichtkönnens überwand und wagte, in sein Körperempfinden und seinen Körperausdruck zu gehen.
2. indem er die Angst und Fluchttendenz vor seiner Figur umwandelte in ein entschlossenes Konfrontieren derselben.
Zweites Beispiel
KRISTALLISATION UND INTERMEDIALER TRANSFER
Nicht jedes Medium eignet sich gleich für ein Thema. So kristallisiert sich hier das Thema in der Bewegung, dann im Bild und schliesslich in der Poesie.
Kristallisationsprinzip
Dieses Prinzip besagt, dass die künstlerischen Medien in ihrem Wesen intermodal
sind, jedoch ihre spezifische Ausprägung haben. So kristallisiert sich z.B. im Medium Musik in erster Linie Klang und Rhythmus, auch wenn sie uns in die Bewegung lockt und in uns Texte und Bilder auftauchen lässt. Ebenso kristallisiert sich im Verlaufe des Gestaltungsprozesses über das künstlerische Tun, über den intermedialen Transfer, die Werkanalyse und die Bedeutungsfindung, etwas heraus, als “träte es aus dem Nebel“, als „ordne sich etwas aus dem Chaos heraus“ oder „wie von selbst“.
(Glossar)
Die junge Klientin erzählt am Anfang der Sitzung, dass die Bewegung in der Brust vom letzten Mal noch nachgewirkt habe. Sie fühle sich leichter, die Schwere habe
deutlich nachgelassen. Sie wünscht sich, dass wir nochmals diese Bewegungsübung zusammen machen.
Gerne folge ich diesem Wunsch.
Wissen, was gut tut und tun, was gut tut, ist wie die richtige Nahrung kennen und sie auch zu sich nehmen. Das bezeichnet die Traumaspezialistin Louise Reddemann als einen wichtigen Pfeiler von Gesunderhaltung. (Vortrag in Kassel)
Wir gehen in den Raum.
Auf einem Stuhl sitzend, begleite ich sie mit meinen Händen an ihrem Rücken bei der Bewegung, welche im Körper eine Welle auslöst. Eine Welle, die sich vom Becken in die Brustgegend fortsetzt und schliesslich den Nacken einbindend wie ein grosses Rad zu einem grossen Kreisen wird.
„Wie das Sprudeln einer Quelle – wie ein Mühlenrad, das hartes Korn mahlt“, begleite ich die Bewegung mit meinen Worten.
Meine Berührung ist jetzt nur noch leicht. Die Klientin schliesst die Augen und atmet immer tiefer ins Becken, während die Bewegung flüssiger, weicher, ausgedehnter wird. Sie versucht dasselbe im Stehen. Nachdem sie auch diese Bewegung gefunden hat, frage ich sie, ob sie malenderweise dieser Bewegung nachspüren wolle.
Sie bejaht und wählt ein Stück Papier mit ungefähr der Grösse ihres Körpers. Wortlos und konzentriert richtet sie sich ein zum Malen: Sie nimmt gelb, dann grün, braun. Sie malt ohne aufzuschauen, nimmt kurz Abstand, geht wieder ans Bild und ist vertieft mit den Farben und Pinselstrichen.
Dann ist das Bild fertig.
Wir betrachten das Werk:
Im Unterschied zum Körpererleben sehen wir nun beide das Bild vor uns und können es betrachten.
Gemäss der Grundhaltung, dass jeder Mensch seine Welt und das Verständnis derselben individuell kreiert, werden die Fragen entsprechend formuliert:
- Was sieht sie jetzt?
- Was überrascht sie, wenn sie das Bild jetzt anschaut?
- Wie ist es ihr ergangen beim Malen?
- Gab es einen besonderen Moment während der Entstehung des Bildes?
-„Eigentlich sind das nicht meine Farben, aber es musste so sein. – Im unteren    Teil ist es so schwer und dicht“, meint sie.
- “Es erscheint mir wie dreidimensional“, füge ich meinerseits eine Beobachtung bei.
- „Ja, wie eine Kugel.“ Und wieder kritisch fügt sie an: „Das Grün und das Gelb sind so gegensätzlich.“
- „Wie wäre es, diese Gegensätze mit dem Körper auszudrücken?“
Intermedialer Transfer
Bringt Bereicherung in den Werkprozess im Sinne von angereichertem Erlebnis, z.B. wenn ein in der Bewegung oder im Tanz Erlebtes im Medium Malerei zusätzliche
Verdeutlichung findet und damit anschaulich wird. Ebenso kann eine Musik in einem Tanz oder einer Theaterszene ausgedrückt, erweiterten Zugang bringen. Ein intermedialer Transfer gibt auch die Möglichkeit, Menschen in neue Medien hinein zu führen und somit neue Erfahrungswelten zu öffnen.
Sie willigt gerne ein. Sie beginnt mit Gelb, schliesst die Augenund räkelt sich wie eine Flamme in slowmotion.
Das Grün bekommt eine Stellung, in der sie breitbeinig steht, die Arme geformt, als würde sie einen dicken Baum umarmen. Die Augen sind dabei geöffnet!
„Können sie weitermachen und sich abwechslungsweise von einer Stellung in die andere bewegen?“
Ohne zu antworten folgt nun Stellung auf Stellung.
Die Augen mal offen, mal geschlossen, entsteht eine immer flüssigere Abfolge von auf und ab, zart und fest, Augen auf, Augen zu.
Mit einem Lächeln zu mir beendet sie den „Tanz der Skulpturen“.
In diesem Moment liegt eine zarte Stimmung im Raum, fragil, geheimnisvoll. Es ist die Zeit der poetischen Sprache: Nur sie mit ihrer Weite, ihrem Anklingen, berührt diese zartschwebenden Anwesenheiten.
„Möchten sie auf ein Blatt schreiben, welche Qualitäten hier gekommen sind? Eine
Ver-Dichtung machen sozusagen?“
Ich gebe ihr Papier und Stifte.
Sie schreibt:
leicht geerdet
Verspielt verwurzelt
Verträumt und mit Boden
Wir verlassen den Tanzraum und überschreiten die Markierung.
- „Das „und“ ist erst am Schluss gekommen“, sagt sie dazu.
- „Das „und“ war wichtig, nicht wahr?“
- „Ja“, meint sie nachdenklich.
Im gemeinsamen Gespräch wird deutlich, was das heissen kann für sie und rufen uns in Erinnerung, wie viel sich geändert hat, seit sie damals nicht mehr leben wollte; damals, als es kein UND mehr gab.
Es ist Weihnachten. Auf ein Blatt male ich ihr ein goldenes „und“. Sie steckt es sorgfältig ein und wir lächeln einander geheimnisvoll zu.
Drittes Beispiel
DEZENTRIERUNG
Medium: Installation – eine Bühne zum Probehandeln
Dezentrierung
Als Dezentrierung bezeichnen wir eine bestimmte zeitliche Phase innerhalb einer professionell geführten Arbeitssitzung. Nachdem der festgefahrene, arme Sprachraum der Not-Enge durch ein ressourcenorientiertes Gespräch bereichert worden ist, wird für eine Zeitperiode „etwas ganz anderes gemacht“. Diese Erfahrung im „alternativen Kontext“ geschieht durch Spiel und/oder künstlerisches
Tun, wobei die Imaginationskraft den Spielraum erweitert. Das entstandene Werk, das Spiel, das Gestaltete und der erlebte Prozess müssen anschliessend besprochen und analysiert werden.
Glossar 2008
Die Klientin kommt mit einem dringenden Anliegen:
Sie wolle „dranbleiben“ an ihrer Frage a
sich und ihr Leben: Was ist jetzt wichtig? Was ist richtig?
Sie spricht diese Sätze mit grossem Nachdruck und angestrengtem Stirnrunzeln. Mit Bewegung und Worten spiegle ich ihr die Gedankenaktivität in ihrem Kopf und die damit verbundene Not und den Stress:
Mit ohnmächtig wütenden und wilden Armbewegungen um den Kopf herum wiederhole ich ihre Fragen:
- Was muss ich mir holen?
- Was macht mich glücklich?
- Wie geht es weiter?
- Was ist jetzt am wichtigsten?
Die Klientin schaut mich an und nickt heftig:“Genau so geht es mir.“
Wir verlassen hier den „Sprachraum“ und gehen in den „Handlungsraum“, in die Gestaltung.
Mit einer einfachen Aufgabenstellung (low skill) beginnt ein sorgfältig geführter (high sensitivity) Prozess.
Low skill- high sensitivity
Einer technisch wenig Anforderung stellenden künstl. Aufgabe steht ein hoher Grad an Sensibilität in Bezug auf Umgang mit Form, Farbe, Material, Bewegung, sowie der Reflexion des Gestaltungsprozesses gegenüber. Es sind niederschwellige aber gleichzeitig ästhetische Angebote, die einen Spielraum eröffnen, wo Überraschendes entstehen kann.
Glossar
Drei Gegenstände soll sie im Raum auswählen. Sie findet eine Schere, einen Hammer und ein rotes Tuch. Nun soll sie diese Dinge in einer Installation verwenden. Sie ordnet die Dinge zu einem Bild und nimmt noch anderes Material dazu, nämlich ein Herz, das unter ein Stück Maschendraht gelegt wird. Dann legt sie den Hammer beiseite mit der Bemerkung:“ Für den hat es jetzt keinen Platz mehr.“
Das entstandene Werk liegt vor uns. Wir betrachten die Installation miteinander wie sie sich jetzt zeigt. Wir schauen und benennen, was da ist, ,d.h. wir bleiben im phänomenologischen Sinne „an der Oberfläche“.
Sie beschreibt, was vor ihr liegt:
„Das Rot wäre eigentlich gross, aber die Schere verhindert den Zugang. Das Herz ist gefangen unter dem Drahtgitter“, beschreibt sie das, was vor ihr liegt.
Plötzlich realisiert sie: “Das alles bin ich!!!“ Sie ist ganz aufgeregt und zeigt eine starke Reaktion auf ihre Darstellung und Beschreibung. „Braucht es etwas?“ frage ich sie. „Einen Schlüssel!“ antwortet sie prompt.
„Wollen sie ihn selber formen?“
Ich hole einen Klumpen Lehm hervor.
Der Wechsel in ein anderes Medium vertieft hier den Prozess.
Langsam und sorgfältig formt sie jetzt einen etwa 30 cm langen Schlüssel. Nun bekommt dieser seinen Platz in der Installation.
Die Anwesenheit des Schlüssels verändert das Bild und es sind Anpassungen not-wendig, welche sie sofort anbringt: Die Schere schliesst sich, das Herz wird befreit vom Maschendrahtkäfig, das rote Tuch wird mehr entfaltet.
„Und wo wäre ihr Platz in dieser Installation?“ frage ich sie und bringe sie damit körperlich in ihr Bild hinein. Sie wartet nicht lange, legt sich mitten ins Rot hinein und nimmt das Herz in die Hand. „Was passiert jetzt in Ihnen?“ frage ich und lenke die Aufmerksamkeit auf das innere Antwort Geben ihres Empfindens, ihrer ästhetischen Resonanz.
„Ich habe wie Angst. Der Magen fühlt sich beklemmend an.“
„Braucht er etwas?“
„Vielleicht zu reden?“ meint sie und bestätigt damit, dass sie die Ressoucen in sich zugänglich hat.
„Vielleicht versuchen Sie es z.B. mit: Ich darf im Rot liegen- oder: Ich darf soviel Raum einnehmen.“
Sie atmet einige Male tief ein und aus, dann sagt sie erstaunt :
“Ich sehe Spinnweben in mir drin – wie in einem vergessenen Estrich!“ Und gleich darauf: „Jetzt räume ich sie weg mit meinem Schlüssel und gehe in den Raum hinein. – Hallo!“
„Hallo“, wiederhole ich, als sie die Augen öffnet und lächelnd umherschaut. Es braucht jetzt ein bisschen Zeit, aus dieser sogenannt „alternativen Welterfahrung“ zurückzufinden in die Welt der Mitteilungssprache.
Ausserhalb der Installation, zurück aus der „alternativen Wirklichkeit“, sammelt sie ihre Erlebnisse, die sie im Laufe des Prozesses gemacht hat:
- wie sie den Moment der Angst und dessen Umwandlung erlebte
- was wichtig war
- was half
Diese reiche Ernte von Erfahrungen soll nun neue Erkenntnisse eröffnen;
Was vom Erlebten kann ihr jetzt weiterhelfen in den Fragen, die am Anfang der Stunde so dringlich waren?
Ihre Be-Deutung und Erkenntnis formuliert sie folgendermassen:
„Es geht um Vertrauen in mich selber und darin, dass ich meiner Angst zureden kann.“
Nach zwei Wochen kommt die Klientin und erzählt, sie habe eine „ revolutionär gute Woche“ gehabt. Sie hat beschlossen, einen unbezahlten Urlaub zu nehmen, mit ihrer Freundin Ferien zu verbringen und inder Ausdruckstanzwoche mitzumachen.
Wieviel Abenteuergeist ist eingezogen in die neu entdeckten Räume! Wie kraftvoll formt sich die Wirkung in ihrem Alltag.
Viertes Beispiel
ERFAHRUNGSWELTEN
Medien: Bewegung, Tanz
Erfahrungen kreieren unser Weltverständnis. Jeder Mensch macht andere Erfahrungen und bildet folglich andere Erkenntnisse.
Wirklichkeiten
Ausgangslage ist die Annahme, dass jeder Mensch sich seine eigene Wirklichkeit konstruiert. Diese ist beeinflusst von den eigenen Erfahrungen und der eigenen kulturellen Einbindung. Da wir laufend neue Erfahrungen machen, verändert sich unsere Wirklichkeit entsprechend, und wir erfinden sozusagen unsere Welt immer wieder neu.
Glossar 08
Welche Geschichte erzählen wir? Wie verändert sich der Mensch, wenn er seine Geschichte anders erlebt und sie demnach neu erzählen kann?
Das vierte Beispiel zeigt, wie eine Leidensgeschichte zu einer Geschichte der Kraft wurde.
Erfahrungswelten
Wir machen unsere Erfahrungen durch unsere Sinne und geben ihnen unsere individuellen Bedeutungen.
Wir unterscheiden verschiedene Erfahrungsweisen an Leib und Seele:
- Alltagserfahrungen wie z:B. Geschirr spühlen
- Ausserordentliche Erfahrungen wie in einer Beratung oder einer Therapie,
  die mit ihrem speziellen Setting sich vom Gewohnten abheben
- Alternative Erfahrungen, welche in einem besonderen Kontext wie im Spiel   oder im künstlerischen Tun gemacht werden. Sie unterstehen nicht der   Alltagslogik, sondern sind getragen von einer ästhetischen Logik, welche dem   künstlerischen Handeln innewohnt. Erst anschliessend können diese unüblichen   Erfahrungen reflektiert werden. (Glossar)
Alltagserfahrung
Der Klient beschwert sich über seine Arbeitsweise: Es halte ihn etwas zurück und die Anstrengung, dieses Gefühl zu überwinden, raube ihm alle Kräfte.
Ausserordentliche Erfahrung
„Möchten sie dies versuchen darzustellen?“ frage ich ihn.
Er bittet mich, die Figur zu markieren, die ihn z.B. an den Schultern zurück hält. Im Laufe der Versuche erkennt er, dass er eher „etwas nachziehe“.
Die Rolle wechselt. Sie spielt nun die Last, die nachgezogen wird. Beim Ziehen empfindet der Klient zunehmend Ohnmacht und wird traurig ob dieser „unsinnigen Last“.
Er braucht Unterstützung, um am Thema bleiben zu können. Er erkundet, wie das ist, wenn er diese unsinnige Last zieht und was mit seinen Gefühlen dabei passiert.
Er meint, es sei so streng und genau so fühle er sich jeweils: erschöpft und ausgelaugt, obwohl die Arbeit noch nicht einmal gemacht sei.
Doch er bleibt dran und zieht stetig, mit vollen Kräften.
Plötzlich sagt er,:“ Eigentlich bin ich stark genug, aber in mir denkt es schwer.“
„Wollen sie das testen mit dem stark genug“, erwidere ich und versuche, meine Rolle als Last noch intensiver zu spielen.
Der Klient zieht und lächelt genugtuend vor sich hin.
„Würden Sie auch die Last von zwei Personen schaffen?“, frage ich ihn, nachdem ich mich befreit habe von meiner Rolle. Ohne zu zögern antwortet er:“ Ja.“ Dann sinniert er lange, schaut mich an und fragt eher zu sich gewendet: „Warum glaube ich nicht an meine Kraft? Woher kommt das? Wer hält mich denn zurück?“
An dieser Stelle erinnere ich ihn, dass er heute die Worte fallen liess: “Ich habe Angst zu gestalten, fühle mich lieber ohnmächtig.“ Dass er noch anfügte, tanzen wäre unmöglich für ihn, erwähne ich nicht.
Alternative Erfahrung
Aber ich fordere ihn heraus.
Im abgegrenzten Aktionsraum liegt ein Tuch mit Tigermuster. Wir haben es ausgesucht.
Es steht für seine innere Kraft.
„Dies ist kein Tanz“, erkläre ich ihm:
„Dies ist Gestalten von Zeit und Raum.“ Dazu bitte ich ihn, barfuss den Bühnenraum zu betreten, da dies etwas ausserhalb der Alltagswelt sei.
Er kämpft mit der Überwindung, die Schuhe und Socken auszuziehen,
tut es aber doch und stellt sich vor

die Bühnenmarkierungslinie. „Es ist ein Abenteuer, und diese Gefühle sind Teil davon“, beruhige ich ihn. Er ist jetzt auch aufgefordert von seinem eigenen Satz, dass er sich lieber ohnmächtig fühle, als zu gestalten. Es muss sein. Er muss ins Gestalten gehen und sich dem Neuen stellen.
Auf seinen Wunsch hin, begleite ich ihn auf der Trommel. Die Hände in den Hosentaschen betritt er den Raum, stupst mit den Füssen das Tuch an, dreht es, vergräbt die Füsse darunter, steht drauf und wirft es dann mit dem Fuss in die Luft. Jetzt sind die Hände aus den Hosentaschen gekommen und mit bedachter Bewegung legt er sich das Tuch um die Schultern, schaut mit dem Rücken zu mir aus dem Fenster, hinaus in die Weite und bleibt lange stehen. Dann bewegt er sich wie ein Tier mit schnellen Sprüngen und überraschenden Gesten, dann wie ein Schamane mit starkem Ausdruck, dann hebt er die Arme mit der Kraft eines grossen, mächtigen Vogels.
Ich schaue fasziniert diesem Geschehen zu und bin berührt von seiner Innerlichkeit und Ausdruckskraft.
Nach einer Weile, die Trommel schweigt schon lange, schaut er mich unvermittelt an und kommt aus dem abgegrenzten Raum heraus.
Ausserordentliche Erfahrung
Er fühle jetzt den Körper vibrieren und es habe ihn warm durchströmt im Moment, als er die Arme ausbreitete.
Er atmet jetzt tiefer, staunt über sich selber und ist stolz, dass er die Herausforderung angenommen hat und aus sich selber dieses starke Erlebnis formen konnte.
Seine Augen leuchten. Er wirkt frischer, lebendiger, grösser. Er hat eine andere Ausstrahlung: warm, geerdet, da.
„Soll ich jetzt das Tuch mitnehmen?“ fragt er scherzhaft.
„Möglich, sie können auch ein Stück davon mitnehmen – als Zauberding sozusagen.“
Da schneidet er sich ein Stück vom Tuch ab und steckt es ein.
Eine Woche später erzählt er, dass die Wirkung angehalten habe und er in sich noch immer eine stolze Freude spüre über seinen „Tanz“ wie wir das Werk nun nennen.
Fünftes Beispiel
ARBEIT MIT EINER GRUPPE
Für die Arbeit mit Gruppen ist die intermediale Methode sehr geeignet und findet in vielen Kliniken Anwendung. Die oben vorgestellten Strukturen sind auch bei Gruppen hilfreich, um die Klienten zu vertieften Erfahrungen zu bringen und zu begleiten.
Jedes Medium eignet sich für die Arbeit mit Gruppen, auch wenn das Medium Theater speziell vom Ensemble lebt.
Gerade das Prinzip „Low skill - high sensitivity“ öffnet den Teilnehmern immer wieder erstaunliche Tore, die Einladung ins künstlerische Tun annehmen zu können.
Mit dieser Gruppe wurden Atemübungen angeleitet: Mit Atemübungen werden die Menschen zu sich nach Hause geführt. Einfache Atemübungen sind ein Geschenk für jede und jeden. Jeder Atemzug ist wie eine Botschaft von innen:
Ich lebe, ich lebe.
Jedes Einatmen ist ein Zeichen, dass im Innersten ein Kern ist, der das Potenzial hat zu wachsen, sich auszudehnen, - auszudehnen von diesem innersten Kern her, um sich dann auszustrecken - den grossen Räumen entgegen. Sie atmeten im Stehen, auf den Knien, auf dem Bauch und am Schluss zusammengekauert wie ein Kern, um der inneren Ausdehnung nachzuspüren.
Schauen Sie sich diese Bilder an, die die Gruppe von Menschen, anschliessend auf schwarzes Papier gezeichnet hat!
Und wie immer, wenn ein Körpererlebnis auf dem Papier sichtbar gemacht wird, ist es nicht mehr, was die Empfindung beim Atmen war und gleichzeitig auch mehr als die Empfindung beim Atmen war, denn auch die Kreide führt mit jedem Strich in andere Räume, in andere Antworten hinein.
Auch hier vertieft der intermediale Transfer, indem er nicht nur sichtbar macht, sondern die Erfahrung erweitert, sie „anreichert“ mit in diesem Falle visuellen Überraschungen im eigenen Werk.
Wieder ist es die Poesie, die dieser verzauberten, nachdenklichen Stimmung gerecht wird.
„Wenn das Körpererlebnis ein Gedicht wäre, was wäre eine Zeile aus diesem Gedicht?“ hiess die Anleitung. „Noch atme ich“, ist der Anfang eines Gedichtes von Hilde Domin. Er steht auf dem grossen Blatt an der Wand.
– Jede Person schreibt nun ihre Zeile dazu:
Noch atme ich
Noch atme ich und spüre den Atem
wieder und wieder
Atme und lebe
Sehe den Baum und den Wald
Dehne mich aus im Raum
Atme in meinen Körper
Der ganze Körper wird wie eine Lunge
Bin in meiner Seele bewegt
Vibriere
Und die Atemluft wird die Musik, zu der ich
tanze.
Und hier hören wir schon die Aufforderung
zum intermedialen Transfer: Der Tanz ruft.
Die Künste rufen uns ins Leben! Dies gilt für die Arbeit mit Menschen in Praxen wie in Institutionen, in Therapie wie in Beratung und Pädagogik. Die Diplomierten der Ausbildungsgänge am EGIS-ISIS bringen diese Methode mit Erfolg in alle diese Bereiche hinein.
Bibliographie
Knill, Paolo (2005) : Kunstorientiertes Handeln in der Begleitung von Veränderungsprozessen
Verlag EGIS
Eberhart, Herbert& Killias Heinz (2004): Überraschung als Anstoss zu Wandlungsprozessen
Verlag EGIS
Knill, Paolo / Eberhart, Herbert (2009)
Lösungskunst, Lehrbuch der kunst-und ressoucenorientierten Arbeit,
Verlag Vandenhoeck & Ruprecht
Eberhart, Herbert (Hrsg.) (2007)
Kunst wirkt,
Verlag EGIS
Danzer, Gerhard (2003): Merleau-Ponty– Ein Philosoph auf der Suche nach Sinn
Epstein, Mark (1998): Gedanken ohne den Denker – das Wechselspiel von
Buddhismus und Psychotherapie
Peter Wanzenried (2008) überarbeitete
Fassung : Glossar EGIS/ISIS für die Ausbildungsgänge in Bildung, Beratung und Therapie
Weitzien, Friedrich (2006): von selbst – autopoietische Verfahren in der Ästhetik des 19. Jh.
Verlag Dietrich Reimer
Thich Nhat Hanh (2006): Im Hier und Jetzt zuhause sein
Theseus Verlag
Martin, Agnes (1992): Writings- Schriften
Verlag Cantz
Autorin
Eva Bischofberger, Tanztherpeutin CET,
Kunsttherapeutin CAGS
Arbeitet seit 1986 in eigener Praxis in Zürich und unterrichtet Tanz und Ausdruck in Seminaren sowie in wöchentlichen Ausdruckstanzgruppen
10 Jahre Co-Leitung des Instituts ISIS
zahlreiche Seminare in der Schweiz und in Europa
Adresse: Klosbachstrasse 55, 8032 Zürich
eva.bischofberger@sunrise.ch
www.koerper-tanz-poiesis.ch
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